In der Antike suchten Personen vor einer wichtigen Entscheidung den Ratspruch der Götter. Hohepriesterinnen empfingen die Orakel, die Zeichen der höheren Instanz, berauscht von Dämpfen, die aus einer Erdspalte aufstiegen. Die berühmtesten Sprüche ergingen an Ödipus: Er würde seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen, was sich tatsächlich erfüllte. Die meisten Sätze waren jedoch eher ein Rätsel als eine direkte Handlungsanweisung. Der Feldherr Themistokles sollte die Stadt Athen verlassen und sie mit hölzernen Mauern verteidigen. Gewitzt verstand der Stratege, was zu tun war, ließ seine Flotte ablegen und besiegte die Perser bei der Seeschlacht von Salamis. Falsch interpretierte Krösus, der letzte König von Lydien, hingegen den Satz „Wenn du den (Fluss) Halys überschreitest, wird du ein großes Reich zerstören.“ Er dachte, er würde durch die Grenzüberschreitung der Herrschaft der Perser ein Ende setzen, bedachte aber nicht die Kehrseite und vernichtete seine eigene Herrschaft.
Nach der Niederlage des HSV kurz vor dem Weihnachtsfest im Pokalspiel gegen den VfB Stuttgart offenbarte sich auch Trainer Thorsten Fink als Orakel. „Alles wird passieren, was man will. Aber auch was man fürchtet.“, philosophierte er zweideutig im Bild-Interview.
Man konnte zwar noch nicht in Erfahrung bringen, aus welcher Erdspalte diese erstaunliche Weisheit Eingang in das Bewusstsein des Fußball-Lehrers gefunden hat. Doch der clevere Fink trifft mit der Sentenz einen wunden Punkt im Herzen des Traditionsklubs: die Furcht.
Im Nordderby gegen Werder Bremen war der HSV zwar forsch und furchtlos aufgetreten, aber ihm fehlte das Glück und die Effektivität. Der Rautenclub hatte größere Spielanteile, aber er agierte in einigen Situationen ohne Spielwitz und Ballsicherheit. Und vorne vermochten weder Mladen Petric noch Paolo Guerrero, die sich ihnen bietenden Chancen konsequent zu verwerten. Die nötige Fortune und Cleverness konnten die Hamburger nur in den Reihen des Gegners bestaunen – wie so oft, wenn es gegen den Lieblingsfeind Werder Bremen geht.
Vor einem Jahr stichelte Tim Wiese noch, dass die Spieler des HSV gar nicht mehr von der Tradition und Emotionalität des Nordderbys Bescheid wüssten – angesichts der Fluktuation im Personal bei den Rothosen. Man könnte diesem Einwand mühelos widersprechen mit dem Hinweis, dass sich auch das Team von der Weser in einem Umbau- und Verjüngungsprozess befindet. Diese Polemik trifft meiner Meinung nach nicht zu, da die Geschichte eines Vereins grundsätzlich dauerhafter ist als dessen Personal.
Die Fans pflegen insbesondere dieses lange Gedächtnis. Der Wurf mit einem Plastikbecher, das mit einem Feuerzeug beschwert war gegen Marko Marin, zeugt von der alten Feindschaft der beiden Nordklubs, die zuweilen unsportliche Züge trägt. Aber auch davon, dass es zu diesem Zeitpunkt um den HSV nicht gut bestellt war gegen die einfallsreich verteidigenden und konternden Bremer.
Es ist eine Schande, dass die Hamburger manchmal mehr Furcht vor dem unfairen Verhalten einiger Fans aus den eigenen Reihen haben müssen, als vor dem Gegner. Im Nachhinein scheint es eine höhere Fügung gewesen zu sein, dass der Becherwurf noch vor der Pause mit dem Nullzuzwei bestraft wurde. Alles wird passieren, was man fürchtet…
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