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Alles wird passieren

In der Antike suchten Personen vor einer wichtigen Entscheidung den Ratspruch der Götter. Hohepriesterinnen empfingen die Orakel, die Zeichen der höheren Instanz, berauscht von Dämpfen, die aus einer Erdspalte aufstiegen. Die berühmtesten Sprüche ergingen an Ödipus: Er würde seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen, was sich tatsächlich erfüllte. Die meisten Sätze waren jedoch eher ein Rätsel als eine direkte Handlungsanweisung. Der Feldherr Themistokles sollte die Stadt Athen verlassen und sie mit hölzernen Mauern verteidigen. Gewitzt verstand der Stratege, was zu tun war, ließ seine Flotte ablegen  und besiegte die Perser bei der Seeschlacht von Salamis. Falsch interpretierte Krösus, der letzte König von Lydien, hingegen den Satz „Wenn du den (Fluss) Halys überschreitest, wird du ein großes Reich zerstören.“ Er dachte, er würde durch die Grenzüberschreitung der Herrschaft der Perser ein Ende setzen, bedachte aber nicht die Kehrseite und vernichtete seine eigene Herrschaft.

Nach der Niederlage des HSV kurz vor dem Weihnachtsfest im Pokalspiel gegen den VfB Stuttgart offenbarte sich auch Trainer Thorsten Fink als Orakel. „Alles wird passieren, was man will. Aber auch was man fürchtet.“, philosophierte er zweideutig im Bild-Interview.

Man konnte zwar noch nicht in Erfahrung bringen, aus welcher Erdspalte diese erstaunliche Weisheit Eingang in das Bewusstsein des Fußball-Lehrers gefunden hat. Doch der clevere Fink trifft mit der Sentenz einen wunden Punkt im Herzen des Traditionsklubs: die Furcht.

Im Nordderby gegen Werder Bremen war der HSV zwar forsch und furchtlos aufgetreten, aber ihm fehlte das Glück und die Effektivität. Der Rautenclub hatte größere Spielanteile, aber er agierte in einigen Situationen ohne Spielwitz und Ballsicherheit. Und vorne vermochten weder Mladen Petric noch Paolo Guerrero, die sich ihnen bietenden Chancen konsequent zu verwerten. Die nötige Fortune und Cleverness konnten die Hamburger nur in den Reihen des Gegners bestaunen – wie so oft, wenn es gegen den Lieblingsfeind Werder Bremen geht.

Vor einem Jahr stichelte Tim Wiese noch, dass die Spieler des HSV gar nicht mehr von der Tradition und Emotionalität des Nordderbys Bescheid wüssten – angesichts der Fluktuation im Personal bei den Rothosen. Man könnte diesem Einwand mühelos widersprechen mit dem Hinweis, dass sich auch das Team von der Weser in einem Umbau- und Verjüngungsprozess befindet. Diese Polemik trifft meiner Meinung nach nicht zu, da die Geschichte eines Vereins grundsätzlich dauerhafter ist als dessen Personal.

Die Fans pflegen insbesondere dieses lange Gedächtnis. Der Wurf mit einem Plastikbecher, das mit einem Feuerzeug beschwert war gegen Marko Marin, zeugt von der alten Feindschaft der beiden Nordklubs, die zuweilen unsportliche Züge trägt. Aber auch davon, dass es zu diesem Zeitpunkt um den HSV nicht gut bestellt war gegen die einfallsreich verteidigenden und konternden Bremer.

Es ist eine Schande, dass die Hamburger manchmal mehr Furcht vor dem unfairen Verhalten einiger Fans aus den eigenen Reihen haben müssen, als vor dem Gegner. Im Nachhinein scheint es eine höhere Fügung gewesen zu sein, dass der Becherwurf noch vor der Pause mit dem Nullzuzwei bestraft wurde. Alles wird passieren, was man fürchtet…

Die Schurken-Schwaben

Wenn ich Leuten zum ersten Mal erzähle, ich sei Anhänger des HSV, schauen sie mich meist mit großen, fragenden Augen an. Warum denn mein Herz nicht für den VfB Stuttgart schlage, wollen sie wissen. Ich komme doch aus der Gegend und lebe zudem momentan weit weg vom „Ländle“ als Exil-Schwabe im fernen Berlin, wo es keine anständigen Brezeln gibt und die Leute „Schwaben raus“ an die Wände schmieren. Wahrscheinlich wirke ich in diesen Situationen bemitleidenswert entwurzelt und uneins mit meiner Heimatregion.

Das trifft jedoch nur für den Fußball zu. Wenn es um Trollinger, Lemberger und Schwarzriesling geht – allesamt Weine, die für Reingeschmeckte im Grunde ungenießbar sind – höre ich mich selten „Nein“ sagen. Ebenso liebe ich die Weinberge, die die zahlreichen Gemeinden im Unterland umfassen, sowie die spezielle Variante der schwäbischen Mundart, die hier einen stärkeren Singsang hat als in der Landeshauptstadt. Die Nähe zu Karlsruhe und Heidelberg, aber auch zum Odenwald schwingt im Sprechen der Menschen mit.

Obwohl ich also meine schwäbischen Wurzeln nicht verleugnen möchte, wurde mir der „Verein für Bewegungsspiele“ in meiner Kindheit durch drei prägende Figuren vergällt: Gerhard Meier-Röhn, Gerhard Mayer-Vorfelder und Olli, der Lockenbua.

Gerhard Meier-Röhn leitete in den 80er Jahren als Sportchef des SWR die Sendung „Sport im Dritten“ und trug zu dieser Zeit eine Brille mit Gläsern groß wie zwei Rhönräder. In den Beiträgen ging es um den Sport aus baden-württembergischer Perspektive und dabei spielte der VfB als Musterverein der Region eine Hauptrolle. Meier-Röhns langgezogenes „Vau“ ist mir noch sehr lebendig in Erinnerung, ebenso seine stets etwas gelangweilte und herablassende Art, die man am besten mit dem schönen Wort „blasiert“ beschreiben kann. Irgendwie kam er sich viel zu cool vor für den profanen Moderations-Schlamassel.

Die Sendung fiel immer auf einen Sonntag, meinen obligatorischen Badetag. Frisch gebadet, mit noch feuchten Haaren und Wasser in den Ohren, verfolgte ich zusammen mit meinem Vater die Neuigkeiten aus dem Südwesten. Er selbst war mit seinen Eltern im Alter von vier Jahren aus Leipzig in die Gegend gekommen und erreichte über den Sport eine Identifikation mit der Region. Als passabler Stürmer der Kinder- und Jugendzeit konnte er sich vor allem über den Fußball im Schwabenland integrieren. Gern hörte er Meier-Röhn zu, wenn der mal wieder von „unserem VfB“ sprach, was ich als unzulässige Vereinnahmung empfand. Aber ich war wohl so ziemlich der einzige Zuschauer dieser Sendung, der die Klubs aus dem Musterländle relativ leidenschaftslos zur Kenntnis nahm. Heute sehe ich Gerhard Meier-Röhn als die Kröte an, die ich gemeinsam mit meinem Vater schlucken musste, damit er sich in dem schwäbischen Städtle heimisch fühlen konnte.

Der Journalist war später Mediendirektor des DFB und hier kreuzen sich seine Wege mit dem quasi Namensvetter Gerhard Mayer-Vorfelder, in meiner Kindheit Kultusminister von Baden-Württemberg und Präsident des VfB. Der konservative Politiker war eine willkommene Zielscheibe im schwarz regierten südwestlichen Bundesland. Da das „Cleverle“, Ministerpräsident Lothar Späth, sich nicht recht als bad guy eignete, verkörperte der gebürtige Mannheimer die hässliche Fratze der CDU. Er hatte so ein gegeltes Trickbetrüger-Lächeln, ein Haifischgrinsen. Verschlagen blitzten die zu weiß gebleichten Zähne im Solarium gebräunten Gesicht, sodass es mich heute noch bei dem Gedanken daran innerlich schüttelt. Neben „MV“ wäre selbst Gordon Gekko zum Sympathieträger mutiert.

Mayer-Vorfelders Auftritt bei der EM 2004 in Portugal, dem letzten Rumpelfußballturnier einer deutschen Fußball-Mannschaft, zeigte uns eine weitere Seite seiner Persönlichkeit. Damals saß er als DFB-Präsident auf einem Stuhl am Rand des Trainingsplatzes und erinnerte mit Weste und ohne Sakko an einen Mafia-Paten, was unfreiwillig komisch wirkte. Die Analogie zu dem Kino-Klassiker von Francis Ford Coppola konnte treffender nicht sein, handelt der Film doch von dem Niedergang einer Familie. Auch der exzentrische Württemberger verwaltete bei der Euro vor sechs Jahren einen Untergang, allerdings den einer gesamten Fußballnation, was man als Zuschauer im letzten Spiel gegen die tschechische B-Elf bitter miterleben konnte.

Der Dritte im Bunde der fürchterlichen Schwaben war ein Schulkamerad und Kumpel: Olli, „d’r Lockenbua“ oder „’s Zwergle“, wie ihn meine Oma wahlweise wegen seiner Haarpracht und seiner geringen Körpergröße genannt hatte. Olli war immer unglaublich cool. Schon als Achtjähriger hatte er ein damals so heiß begehrtes BMX-Fahrrad, klatschte beim Fahren in die Hände, pfiff auf den Fingern und skandierte dazu „Oleoleoleole.“ Beim Fasching ging er nicht als Cowboy oder Indianer. Nein, er stylte sich als Punker: Riss seine Jeans auf und bemalte sie, schmierte sich Zuckerwasser ins gefärbte Haar und formte es in der Mitte zu einem Hahnenkamm, so wie es heute noch manche Jugendliche tun, die eine besonders lange Leitung haben oder eben ganz weit draußen wohnen.

Olli war so vorlaut und rotzfrech wie der Werbedreikäsehoch, der beim Nutella Spot die Jungnationalspieler an der Nase herumführt und in einer DiBa-Werbung für ein Autogramm Dirk Nowitzki anblafft, weil der nicht in Schönschrift unterzeichnet. Mein kleiner Kumpel hätte hingegen das Krikelkrakel der Stars cool und geheimnisvoll gefunden, wie übrigens die meisten Kinder in diesem Alter.

Auch für seinen Verein schrie und quengelte der Lockenjunge. Er war ein „VfB-Spitz“, wie man die Anhänger der Klubs in unserer Gegend humorvoll-abwertend nannte: ein Fan des „Vereins für Behinderte“. Besonders laut krakeelte er in der Saison, als das Team Meister wurde – angetrieben durch die genialen Mittelfeldspieler Asgeir Sigurvinsson und Karl Allgöwer, abgesichert von den kompromisslosen Förster-Brüdern und Helmut Rohleder im Tor. In dieser Spielzeit war der HSV der schärfste Konkurrent der Schwaben. Die Hamburger hatten die beiden vorangegangenen Meisterschaften und den Landesmeisterpokal an die Alster geholt. Diesmal mussten sich die Hanseaten aber mit dem zweiten Platz zufrieden geben. Und ich hatte als einziger Rauten-Fan die Jubel- und Spottgesänge im Unterland zu ertragen.

Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich mein Kontakt zu Olli tatsächlich nur verlief, weil wir gegnerischen Fußball-Klubs anhingen. Das Gedächtnis fantasiert im Nachhinein ja gerne, konstruiert unüberwindbare Grabenkämpfe, wo in Wirklichkeit nur ein Missverständnis herrschte. Im Grunde waren wir von unserem Wesen her zu unterschiedlich, ziemlich oft gehen ja ungleiche Kinder-Freundschaften auseinander.

Fakt ist jedoch, dass Olli, Mayer-Vorfelder und Meier-Röhn am Ende der Saison 1983/84 alle ausgelassen jubelten. Fast erscheint es mir, dass sie sich gemeinsam umarmten, was natürlich völliger Quatsch ist. Ich wusste jedoch schon damals ganz genau, dass ich, was den Fußball angeht, nie in Schwaben heimisch werden würde.

Ein Tor wie ein Gedicht

Der Spielzug, den die Dortmunder Jungspunde in der 70. Minute auf den heimischen Rasen zeichneten, war Poesie von Körper und Ball, Ballspielkunst in seiner reinen Form. Die Aktion steht stellvertretend für das intelligente und inspirierte Auftreten der Dortmunder in der bisherigen Saison.

Mats Hummels gewinnt auf der Höhe der Mittellinie das Kopfballduell gegen Joris Mathijsen. Der Ball landet bei Jinji Kagawa, der gelben Gefahr aus dem Land der aufgehenden Sonne, und der Japaner legt postwendend den Hebel auf Angriff um, schickt Mario Götze auf dem rechten Flügel auf die Reise. Bis weit in den gegnerischen Strafraum dringt er vor und schiebt klug das Leder an HSV-Torhüter Jaroslav Drobny vorbei an den langen Pfosten, wo bereits Kevin Großkreutz heranprescht. Der setzt dem bisher Gezeigten noch die Krone auf, denn er trifft eine Entscheidung, die man nur mit einem Wort beschreiben kann: genial.

Er hält nicht blindlinks aufs kurze Eck im Gottvertrauen, dass die Kugel schon irgendwie an dem Hamburger Abwehrspieler vorbei ins Tor trudeln wird. In der aktuellen Form vertraut der 22-Jährige nicht Gott sondern seinem Torjäger. Schiebt den Ball uneigennützig mit dem Außenrist zurück an den Rand des Fünfmeterraums, direkt zu Lucas Barrios, weil der einfach besser postiert ist und nur noch seinen Fuß hinhalten muss.

Selbst für einen eingefleischten HSV-Fan wie mich war es im Nachhinein eine Freude, den Ball so munter im Strafraum zirkulieren zu sehen, selbst wenn das auf Kosten meines Vereins ging. Nicht nur körperlich war das jugendliche Sturm-und-Drang-Team von Jürgen Klopp dem Gegner überlegen. Vor allem geistig schalteten sie den berüchtigten kleinen Moment schneller, der die Spitze vom Mittelmaß trennt.

Widerlegt sind Kritiker aus den Anfangsjahren des Fußballs, wonach die „Fußlümmelei“, wie der Stuttgarter Professor Karl Planck das Spiel an der Wende zum 20. Jahrhundert nannte, einen schädlichen Einfluss auf die Jugend habe. Andere Stimmen sprechen noch in den 30er Jahren von einem „blödsinnigen Herumgelaufe und Herumgetrete“, einem Spiel von „abstoßender Rohheit“, das zudem das Schuhwerk ruiniere. (Moritz, S.61).

Heute wissen wir, dass das Ballspiel die Jugendlichen eher fördert: Es kann Teamfähigkeit sowie motorische Begabungen ausbilden und verfeinern. Eine Aufwertung dieses Sports wird unter anderem durch den Begriff „Spielintelligenz“ ausgedrückt, eine Eigenschaft, die man Akteuren wie Lionel Messi, Mesut Özil oder eben dem Dortmunder Nuri Sahin zuspricht.

Erfolgreiche Teams haben ein geringes Durchschnittsalter. Dieser Trend trifft auf das DFB-Team ebenso zu wie auf die Top-Mannschaften der Bundesliga. Zu diesem Kreis zählen die wieder einmal zu zögerlichen und zu sehr auf Sicherheit bedachten Hamburgern momentan nicht. Ihnen wurde in der Partie gegen den Tabellenführer plastisch vorgeführt, wie erfrischend intelligenter Fußball sein kann, und wo die Grenzen des Rautenklubs in dieser Spielzeit liegen.

Gegen die dynamische Jugendbewegung aus Westfalen konnten die Hanseaten nur ihr Alibi-Talent Heung-Min-Son aufbieten, das zwar kurzzeitig ein frisches Lüftchen in den Angriff brachte, aber letztlich von dem gemächlichem Tempo seiner betagten Mannschaftskameraden ausgebremst wurde.

Armin Veh, der leidende HSV-Coach, kritisierte dann auch nicht das Alter, sondern die leidenschaftlose Vorstellung seiner Elf, sie habe kein Herz gezeigt. Wenn schon feine Poesie derzeit aufgrund der dünnen Personaldecke an der Alster nicht möglich ist, so sollten die teuren Kicker wenigstens die Ärmel hochkrempeln und einmal wieder richtig malochen: Grasfresserlyrik wäre angesagt.

Quelle: Rainer Moritz (Hg), „Vorne fallen die Tore.“ Fischer Verlag Frankfurt/Main 2006.

Mensch, Jonathan!

focus.de

Im Alten Testament ist Jonatan – in der Lutherbibel ohne „h“ geschrieben – zugleich Sohn des israelitischen Königs Saul und bester Freund von David, dem Nachfolger auf dem Thron. Er übernimmt die wahrlich nicht beneidenswerte Aufgabe des Vermittlers zwischen den beiden Parteien.

Es ist ein einseitiger Konflikt, der zu Lasten des Königs geht. Gott hat sich bereits von Saul abgewendet, weil dieser ungehorsam war. Er hatte einen unterworfenen Stammesführer sowie dessen beste Schafe und Rinder geschont, sich also selbst an der Beute bereichert und nicht – wie von Gott befohlen – alle Feinde und deren Tiere getötet. Er hatte es sich mit dem alttestamentarischen Jahwe verscherzt und mit dem war in manchen Situation nicht gut Kirschen essen.

Zusätzlich heißt es, der böse Geist sei über Saul gekommen, möglicherweise handelt es sich hier um eine manisch-depressive Erkrankung. Dieses Leiden ist der Grund, weshalb der junge David an Sauls Hof geschickt wird, er soll durch das Harfespiel dem Kranken Linderung verschaffen. Wir haben es also mit einer frühen Form der Musiktherapie zu tun, die jedoch im Falle des mitunter sehr cholerischen Herrschers nicht anschlägt, da der vermeintliche Therapeut aus Bethlehem die Krankheit noch verstärkt.

Der junge Mann erweist sich nämlich nicht nur als feingeistiger Musiker sondern auch als erfolgreicher Kämpfer im legendären Duell gegen den Philister-Riesen Goliat. Das steigert sein Ansehen am Hof dermaßen, dass die Frauen skandieren:
„Saul hat tausend erschlagen, aber David zehntausend.“ (Sam.18, 7).

Mit Argwohn beobachtet der König den kometenhaften Aufstieg des Jünglings. Er fürchtet, David wolle ihm den Thron streitig machen. Deshalb will der Herrscher den Konkurrenten beseitigen und trachtet ihm nach dem Leben. Zweimal kann David im letzten Moment den Spießen ausweichen, die der wütende Herrscher gegen ihn wirft. Dann spitzt sich der Streit so zu, dass David vom Hof fliehen muss.

Während dessen Abwesenheit legt Jonatan bei seinem Vater ein gutes Wort für David ein, bittet ihn, von seinen Mordplänen gegen den Jüngling abzulassen. Seinem Freund hingegen verrät er die Tötungsabsichten des Vaters und teilt ihm mit, ob er bleiben oder die Gegend verlassen soll: Die drei abgeschossenen Pfeile geben Auskunft über die Stimmung des launischen Anführers.

Am Ende hat die Mission des Königssohns Erfolg: Zwischen dem Vater und dem Freund kommt es zu keinem Blutvergießen. Saul und Jonatan hingegen werden in einer Schlacht von den feindlichen Philistern getötet, was David zwar ernsthaft betrauert, ihm aber auch den Weg zum Thron der Israeliten ebnet. Das Wirken Jonatans bleibt zwar im Schatten der glanzvollen Taten, die von der Lichtgestalt David berichtet werden. Interessanterweise illustriert diese Geschichte aber auch den Gedanken, dass ein kompetenter Schlichter kein Greis sein muss, der seine Alterszeit in Talkshows verbringt. Er muss nur das Wissen und Gefühl für das Gute einer Sache haben.

Jonathan ist auch der Protagonist der gleichnamigen Erzählung des expressionistischen Dichters Georg Heym. Sie erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich als Maschinist auf einem Dampfer bei einem Arbeitsunfall beide Beine gebrochen hat und nun im Krankenhaus liegt. Die Sterilität und Anonymität dieser Institution lasten auf dem kindlichen Helden ebenso wie sein sich zunehmend verschlechternder körperlicher Zustand.

In Erinnerungen, Fieberfantasien an die exotische Welt Asiens und Afrikas kann er zwar zeitweilig der Klinik-Tristesse entkommen; auch der kurze Kontakt zu seiner Bettnachbarin, einem jungen Mädchen, erfüllt ihn mit einem Funken Hoffnung. Am Ende kann den jungen Mann aber nicht einmal die Amputation beider Beine retten, im Gegenteil: Der medizinische Eingriff beraubt Jonathan der Eigenschaft, Mensch zu sein – seine Wahrnehmung wird hier eindrucksvoll nachgezeichnet:

„Wo vorher seine Beine gewesen waren, war jetzt ein dickes blutiges Bündel von weißen Tüchern, aus denen sein Leib aufragte wie der Körper eines exotischen Gottes aus einem Blumenkelch.“

Das offene Ende der Geschichte legt nahe, dass der Held am Ende stirbt. Er schleppt sich in seiner Vorstellung „über die Felder, über Wüsten, während das Gespenst ihm voranflog, immer weiter durch Dunkel, durch schreckliches Dunkel.“

So wüst und öde mag wohl auch der Weg über 20, 30 Meter auf Jonathan Pitroipa gewirkt haben im Spiel des HSV gegen den FC Bayern. Mutterseelenallein schoss der Hamburger auf den Kasten des FC Bayern zu, wo bereits der ehemalige HSV-Torhüter Hansjörg Butt wartete.

Pitroipas schmächtige Figur erlaubt ihm wieselflinke Bewegungen, mit denen er den meisten Verteidigern der Liga davonsprinten kann. Die schmale Statur lässt den Stürmer aus Burkina Faso aber auch mit 24 Jahren noch wie einen Jugendlichen, „eine halbe Portion“, wirken, dem in Zweikämpfen bisweilen die Standfestigkeit fehlt.

Nach dem Spiel wird Trainer Armin Veh mit bewundernswerter Gelassenheit sagen, Jonathan habe die falsche Entscheidung getroffen. Er hätte besser sein hohes Tempo ausnützen und wie ein Hochgeschwindigkeitszug rechts am Torhüter vorbei Richtung kurzes Eck preschen sollen. Jonathan Pitroipa entschied sich aber für einen Schuss ins lange Eck und traf den Pfosten.

Acht Zentimeter, so breit ist nach dem FIFA-Reglement der vertikale Torbalken, trennten die Hanseaten vom verdienten Sieg. Den Bayern blieb damit eine erneute Niederlage erspart. Der burkinische Wirbelwind ließ hingegen wieder einmal eine Gelegenheit aus, Star des Abends zu werden und den HSV weiter nach vorne zu bringen.

Der biblische Jonatan hat seinen festen Platz in den Geschichtsbüchern und auch Georg Heyms Protagonist ist noch heute Literaturliebhabern ein Begriff.
Ob Jonathan Pitroipa den HSV-Fans einmal in guter Erinnerung bleibt, hängt nicht zuletzt von einem Umstand ab: seiner zukünftigen Treffsicherheit.

Quellen:
Lutherbibel Standardausgabe. Stuttgart 1985.
Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 2, Hamburg, München 1960 ff., S. 38-52.

Zehn gewinnt – Das Lesebuch „Vorne fallen die Tore“ von Rainer Moritz

Das Spiel elf gegen zehn nach einem Platzverweis hat seine eigenen, bisweilen paradoxen Gesetze. Eines davon besagt, dass ein Team in Unterzahl unberechenbar und keineswegs besiegt ist; manchmal agiert die dezimierte Mannschaft sogar wie in einem Rausch. Jeder Spieler läuft noch ein paar Schritte mehr als vorher, ist deshalb den entscheidenden Tick schneller am Ball und passt diesen postwendend zum nächsten freien Mitspieler. Die Kombinationen laufen plötzlich wie am Schnürchen, man führt den Gegner vor, der zu elft gehemmt wirkt und ein ums andere Mal ins Leere rutscht. Nicht selten bedeutet der vermeintliche Vorteil für die vollzählige Mannschaft eine Last. Diese wird sogar größer, wenn der Kontrahent zu zehnt ein Tor erzielt – wie im letzten Hinrundenspiel des HSV gegen die Weserlinge geschehen. Gut 60 Minuten lang wehrten sich die Hamburger erfolgreich gegen zahlenmäßig überlegene Bremer. Und am Ende fragte man sich an der Weser konsterniert, warum man um alles in der Welt verloren hat.

Rainer Moritz gibt in seinem Lesebuch Vorne fallen die Tore darauf eine Antwort. Die Zahl „elf“ ist nach Aussage von Brauchtumsforschern im christlichen Verständnis ein Sinnbild für die Sünde des Menschen, denn sie übersteigt die Zehn, die seit dem Dekalog als heilig gilt. Die Fußballelf sei also nichts anderes als die Personifikation der Übertretung göttlicher Gebote, eine karnevaleske „verkehrte Welt“. Wird ein Team um einen Spieler dezimiert, ist die heilige Ordnung wieder hergestellt und man kann mit Unterstützung der Fußballgötter endlich befreit aufspielen. Nachträglich müsste der HSV also Marko Marin danken, dass er sich wie ein verschwitztes Handtuch hat auf den Boden fallen lassen, und so die rote Karte für Jerome Boateng provozierte. Damit hatten die Rothosen den Sieg in der Tasche.

Außer Zahlenmystik finden sich in dem unterhaltsamen Buch Porträts von Spielerlegenden: Gewürdigt werden unter anderem der Österreicher Mathias Sindelar, den man wegen seines feingliedrigen Körperbaus „den Papierenen“ nannte, und der Brasilianer Garrincha – er war als Kind sehr schmächtig, litt an Kinderlähmung und wurde dennoch ein begnadeter Rechtsaußen. Auch allerlei Kurioses hat der Autor zusammengetragen: Zum Beispiel die Anekdote von einem Schiedsrichter, dem in einem Spiel gleich drei Uhren kaputt gegangen sind, nichtsdestotrotz hat er die Partie rechtzeitig abpfeifen können. Oder das eigentümliche Essverhalten des Blonden Engels Bernd Schuster: Er verdrückte vor und nach dem Spiel immer seine Lieblingsmahlzeit: Gurkensalat nach Art von Mutti.

Rainer Moritz (Hg), „Vorne fallen die Tore.“ Fischer Verlag Frankfurt/Main 2006.


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