Als ich einmal Jaroslav Drobny anschrie

In meinem Kiez gibt es einen Mann, der durch die Straßen geistert und die Vorbeigehenden um etwas Geld bittet. Mit unsicherem Schritt streift er herum, groß und stämmig, doch bei genauerem Hinschauen morsch und gebrechlich wie ein Baum, den Schädlinge von innen aushöhlen. Sein offensichtlicher Parasit heißt „Alkohol“, das erkennt man an seinem ruckhaften Gang, dem Stottern, seinem verlebten Gesicht.

Früher hatte er ein Erkennungsmerkmal: eine Beinahe-Glatze, nur am unteren Haaransatz hingen die Haare im Halbkreis fettig und leblos herunter; damit erinnerte er mich immer an einen verwahrlosten Clown, der all seine Schminke und die rote Pappnase veräußert hat. Neuerdings hat er seinen Kopf rasiert und ganz vorne auf der Nase sitzt eine Lesebrille, über deren Rand er die Menschen prüfend anblickt, was ihm etwas Professorales verleiht. Jedoch befürchte ich, auch das ist nur ein Stereotyp, das an dieser Persönlichkeit abrutscht.

Ich habe ein komisches Verhältnis zu diesem Mann, der sich an die Passanten mit nur einem Standard-Spruch wendet: Er habe sich ausgesperrt. Und deshalb brauche er dringend etwas Kleingeld für einen Kaffee oder zum Telefonieren. So weit, so gut.

Tendenziell bin ich ein Mensch, der gerne mal ein paar Cent für Hilfsbedürftige übrig hat. Andererseits werde ich laufend von Promo-Verkäufern oder Straßenmusikanten angesprochen, die natürlich allein meine ganz persönliche Hilfe benötigen. Manchmal gebe ich etwas, gelegentlich wehre ich die Bitten mit einem knappen „Nein, danke.“ ab oder husche wortlos davon. Damit hat sich die flüchtige Kontaktaufnahme meist erledigt.

Wenn der Mann aus meinem Kiez jedoch auf sein „Entschuldigung, ich habe mich ausgesperrt…“ eine Absage bekommt, neigt er zu Gehässigkeiten. Das kann ich im Grunde verstehen, macht mich aber dennoch wütend. Teilweise äfft er die Leute nach oder wirft ihnen Kraftausdrücke aus der untersten Schublade hinterher.

Meine Frau vertritt eine klare Haltung zu diesem Original. Sie hat für sein rüpelhaftes Verhalten, sowie für unhöfliches Benehmen im Allgemeinen, überhaupt kein Verständnis. Deshalb meidet sie ihn, so gut es geht. Ich bin mir da nicht so sicher. Und das, obwohl er mich schon wüst beschimpft hat, weil ich kein Ohr für sein Anliegen hatte.

Eigentlich müsste er mich bereits kennen, da er mich schon unzählige Male angesprochen hat. Ich habe ihm sogar einmal aus der Patsche geholfen. Als er an eine Häuserwand gelehnt, seine Flasche Bier nicht aufkriegte, weil seine Hände so zitterten, legte ich das Feuerzeug an den Kronkorken an und öffnete ihm seinen halben Liter Ruhe. Trotz dieser Begebenheit tischt er auch mir stets dieselbe Geschichte von seinem Ausgesperrtsein auf.

Mittlerweile laufe auch ich meist kommentarlos weiter und versuche ihn zu ignorieren. Einmal ist mir dennoch der Kragen geplatzt und ich bin mit hochrotem Kopf auf ihn zu und habe zurückgeschrien. Das würde ich bereits kennen, wetterte ich, er habe immer die gleiche Scheiß-Ausrede, er solle sich doch mal etwas Neues einfallen lassen oder nicht so saudoof sein und sich fortwährend aussperren. Ich habe ihm eine richtige Szene gemacht und mich dabei ordentlich blamiert. Die umherstehenden Leute dachten bestimmt, ich und der Mann gehörten zusammen.

bz-berlin.de

Ein ähnlicher Wutausbruch überkam mich, als ich das letzte Mal den HSV-Torhüter Jaroslav Drobny anschrie. Das muss während eines Spiels in der Zeit von Michael Oenning gewesen sein. An den Anlass kann ich mich nicht mehr recht erinnern. Der bisweilen glücklos wirkende Keeper war wie eine verrostete Bahnschranke nach dem Ball gehechtet, beim Herauslaufen am Ball vorbeigesprungen oder hatte ihn direkt vor die Füße des Gegners gefaustet. Jedenfalls hatte er sich einen unentschuldbaren Faux-Pas geleistet, den ich in dieser Situation in die Kategorie „Slapstick“ einordnete.

Der Drobny kostet uns die Liga. So ein Fliegenfänger. Der soll doch endlich einen Helm aufsetzen, vielleicht hält er dann was. Ohne können die tschechischen Torleute anscheinend nicht. Das waren noch Zeiten, als der Uli Stein nicht nur Bälle, sondern auch Kobras aus dem Strafraum boxte. Aber das gibt’s heute ja nicht mehr, zeterte ich.

Wahrscheinlich war meine Erregung dem ein oder anderen Bierchen geschuldet, das ich in der Fußballkneipe zu mir genommen hatte – oder der gedrückten Stimmung unter uns HSV-Fans, die wir um die nackte Existenz unseres Vereins bangten. Jedenfalls benahm ich mich formal wie inhaltlich ziemlich daneben. Das wurde mir erst klar, als nach meinem Lamento plötzlich Stille in der Kneipe herrschte und mich alles wie in einem Hollywoodfilm fassungslos anschaute. Ich begriff, dass ich gerade wutentbrannt eine Leinwand angeschrien hatte und ich schämte mich ein wenig.

Einmal habe ich zu meiner Frau gesagt, dass der Typ von der Straße ganz schön penetrant und unausstehlich sein kann, dass er aber dennoch zu uns gehört. Auch er ist Teil von unserem Kiez. Genauso wie die Schwaben, Ossis, Piraten und Akademiker mit Bugaboo-Kinderwägen.  Oder genauso wie Torhüter Jaroslav Drobny Teil meiner Fußballwelt ist. Wohl deswegen stauche ich ihn zusammen, als wäre er mein kleiner Bruder. Dafür liege ich ihm aber ergeben zu Füßen, wenn er so hält wie gegen die TSG Hoffenheim.

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