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Entscheidend is’ auf der Straße

Prenzlauer Ecke Danziger: Das Erste, was einem entgegenspringt, wenn man auf die Straße tritt, ist der unheimliche Lärm, der an diesem Knotenpunkt von zwei Tramlinien sowie den beiden mehrspurigen Hauptstraßen verursacht wird. Von hier aus geht’s zu den hot spots des Ostens: Friedrichshain, Eberswalder Straße und Alex-Mitte; nach Norden hin verliert sich der Verkehr ins Nirgendwo nach Weißensee, das seinem eigenen Tempo folgt. Von dieser Kreuzung aus streben alle irgendwoanders hin, als Andenken hinterlassen sie Krach, schlechte Luft und gestresste Anwohner.

Als nächstes trifft man auf einen Schwarm uniformierter Mitarbeiter des Ordnungsamts, das einen Block weiter seinen Sitz hat. Seit man hier für das Parken bezahlen muss, patroulieren die Herren und Damen der Behörde Tag und Nacht durch das Viertel. Sie helfen bei der Durchsetzung der neuen „Parkraumbewirtschaftung“, wie es so schön auf Beamtendeutsch heißt.
Ein Nebeneffekt: Hundebesitzer dürfen endlich aufatmen. Ihre Vierbeiner können nun ungestört ohne Leine durch die Grünanlagen laufen, ohne dass ein Ordnungshüter aus dem Gebüsch springt, um ein Bußgeld zu verhängen. „Jack-Russell“ ist nun mal keine Automarke.

Wenn man die Prenzlauer Allee hochläuft in Richtung S-Bahnhof, fällt einem sofort das hässliche Lächeln dieser Straße auf. Wie Zahnlücken stechen die leerstehenden, dunklen Ladenflächen hervor, in deren Fenster orange-farbene „Zu vermieten“-Schilder mit Telefonnummer hängen. Unverständliche, Grafitti-ähnliche Zeichen sind auf die Scheiben geschmiert. Hier kann sich ein Tagger verewigen, wenn er mag. Die Scheiben werden erst wieder geputzt, wenn der Laden einen neuen Besitzer gefunden hat. Und das kann dauern.

Es gibt zweifelsohne hübschere Ecken in Berlins schickem Prenzlauer Berg, das Winsviertel und der Käthe-Kollwitz-Kiez sind nur fünf Minuten zu Fuß entfernt. Aber was ist schon schön?
Wer als Zugezogener in Berlin lebt, der hat sein Verständnis von Schönheit nicht nur einmal überdacht und revidiert. Denn die Hauptstadt hat – abseits der Vorzeigestraßen und Puppenhaus-Alleen – ihre eigene Attraktivität. Das gilt auch für dieses Stück der Prenzlauer Allee.

An einem Automatencasino flimmert unablässig das Leuchtschild „open 23 Stunden“. Eine Frauenkleider-Boutique bietet deutsche Größen von 36 bis 50 an. Ein Krimskrams-Geschäft ist vollgestopft wie eine Messie-Wohnung. Den Namen habe ich vergessen. Wenn ich ehrlich bin, hat es mich bisher auch nicht interessiert, obwohl ich bereits unzählige Male daran vorbeigelaufen bin – und einmal sogar was gekauft habe. Nein, nicht ganz. Letzten Sommer wollte ich während der Affenhitze einen Standventilator kaufen. Natürlich waren alle aufgrund der tropischen Temperaturen in nullkommanichts verkauft, ich kam viel zu spät. Ich solle nächste Woche noch einmal wiederkommen, sagte man mir damals. Mittlerweile ist fast ein Jahr vergangen, bald kehrt der Sommer wieder und ich habe immer noch keinen Ventilator.

Vor einem Spieleladen, in dem man auch direkt zocken kann, stehen regelmäßig Teenager herum, rauchen und spucken auf den Boden. Oft auch solche, die vollkommen schwarz gekleidet sind – früher hätte man sie als „Gruftis“ oder „Schwarze“ bezeichnet. Eine dicke, modrige Patchouli-Wolke umgibt sie. Nach Schaufenster und Publikum zu urteilen werden hier vornehmlich Fantasy-Rollenspiele veranstaltet.

Neben dem Jugendtreff befindet sich eine klassische Berliner Eckkneipe, die in der Namensgebung durchaus Fantasie beweist. Das „Warsteiner-Café“ macht den Eindruck, als ob es hier hauptsächlich um das erste der beiden deutschen Volksgetränke gehe.
Draußen wird an Cafétischen und –stühlen der leckere Gerstensaft geleert, drinnen tut man am dunklen Tresen nichts Anderes. Die Bewegungen in der Bar wirken im Vergleich zum vorbeirauschenden Verkehr draußen wie um das 100fache verlangsamt: Zigarettenqualm steigt zur Decke, jemand führt sein Glas zum Mund, die Thekenkraft zapft ein weiteres Pils. Es scheint, als ob die Zeitlupe-Taste gedrückt wäre – nur das Blinken des Spielautomaten an der Wand widersetzt sich dem verlangsamten Modus.

Am Fenster hängt ein vergilbtes Schild: „Raucherkneipe. Eintritt ab 18 Jahren.“ Und noch ein Aushang ist an die Scheibe gepinnt: „Wir suchen eine nette, zuverlässige Mitarbeiterin“, „zuverlässige“ ist doppelt unterstrichen.

Auch 200 Meter weiter Richtung S-Bahnhof werden verlässliche Leute gesucht. Ein Blumenladen braucht Aushilfen und bietet dafür Minijobs. Kurze Lebensläufe sind an der Kasse abzugeben, steht auf einem handgeschriebenen Poster. An Arbeit und ein bisschen Geld für sogenannte Gering-Qualifizierte scheint es in dieser Ecke nicht zu mangeln.

Auch der Weg des HSV ist unsicher und der Verein blickt in eine ungewisse Zukunft. Zu Saisonende gibt es einige Vakanzen. Gestandene Profis wie Frank Rost, Ruud van Nistelrooy, Piotr Trochowski und nun auch Zé Roberto haben sich entschieden, den Verein zu verlassen. Diese Kräfte werden wohl kaum von Großverdienern ersetzt, weil das Geld an der Alster nach zwei verpatzten Europa League Teilnahmen mittlerweile knapp ist und ein moderater Sparkurs eingeleitet werden muss.

Der neue Sportchef Frank Arnesen wird zwar nicht unbedingt Minijobs ausschreiben, noch wird er sich auf die Suche nach Gering-Qualifizierten machen. Aber die Zeit großer Transfers ist für die nächste Zeit vorbei. Der Däne wird sich am Vorbild Dortmunds und noch eher dem von Hannover orientieren müssen. Der „kleine HSV“ aus Niedersachsen demonstrierte in der aktuellen Saison eindrucksvoll, wie man mit einer disziplinierten taktischen Ordnung auch ohne Stars erfrischend auftreten kann.

Wie auf der Prenzlauer Allee ist auch bei den Hanseaten noch nicht ganz klar, wohin die Reise geht. Entweder gerät der Verein kommende Saison wie Werder Bremen in ernsthafte Schwierigkeiten. Oder er entwickelt sich wie der 1.FC Nürnberg oder Hannover 96 und avanciert zur Überraschung der Liga. Dafür braucht der Rautenklub Verstärkung, die mit großem Herz aufspielt und vor allem eins ist: zuverlässig.

Verloren in Berlin

In Berlin begegnet man – vor allem in den Seitenstraßen – allerlei Ausrangiertem. Am Wegesrand stehen große Röhrenfernseher und schwere Computer-Monitore, die wohl von leichten Flachbildschirmen verdrängt wurden. Die ausladenden Rückseiten sind nicht selten aufgeschraubt und geben das Innere der Geräte preis, manchmal wirken sie dann wie ein offen stehender Mund, der sich niemals schließt oder wie ein ausgeweideter Tierkadaver.
An anderen Tagen flankieren verratzte Sofas, abmontierte Kinderbetten, durchgelegene Matratzen und klapprige Bücherregale die Fußwege. Der Sperrmüll ist Teil des Kiezes wie die neu errichteten Parkuhren und die Gerüste an den Häusern.

Zu dem Ausgemusterten gesellt sich das Verlorene, immer wird hier etwas verloren. Oft sind es Babyschnuller oder Kinder-Stofftiere. Vor allem im Winter, wenn man dick eingepackt ist und sich wie ein Michelin-Männchen fühlt, bedeutet jeder Verlust auch eine Erleichterung. Einzelne Handschuhe und Wollmützen liegen herum, meist mitten auf dem Gehweg. Die Menschen hier hinterlassen unfreiwillig Spuren.

Die Essensreste auf dem Boden bemerkt meine gefräßige Terrier-Hündin immer zuerst. Wenn sie beim Gassigehen weit hinter mir zurückbleibt und mein Rufen ohne Reaktion in der Kälte verhallt, ahne ich schon, dass sie sich einmal mehr über einen angenagten Schawarma, eine Wurst oder ein Pizzastück hermacht. Sie weiß, dass sie das nicht darf, schuldbewusst und zugleich befriedigt leckt sie sich beim Zurückkommen die Schnauze. Der verfressene Teil in ihr ist offensichtlich stärker als der gehorsame.

Besonders berührt bin ich, wenn ich auf einzelne, herrenlose Schuhe stoße; sie machen mir immer ein mulmiges Gefühl. Ich male mir dann aus, dass mit dem Besitzer etwas ganz Schreckliches passiert sein muss, dass ich mich gar nicht genauer vorstellen mag. In diesem Winter habe ich schon ein kleines Stiefelchen mit einem rosa Kindermotiv im Schnee gesehen. Wie das Mädchen wohl seinen Schuh verloren hatte?

Als ich vergangene Woche mit meinem Hund die Morgenrunde drehte, traf ich auf eine ganz unheimliche Szene. Auf einer Parkbank war eine Jacke an die Lehne drapiert. Mit ausgebreiteten Ärmeln sah sie aus, als ob ein Unsichtbarer drinstecken und eine Rast einlegen würde. Das Kleidungsstück war schon etwas eingeschneit, hatte in dieser Position wohl übernachtet.

Just in dieser Zeit geisterte die Nachricht durch die Medien, dass HSV-Coach Armin Veh auf der Suche nach einer Glücksbringer-Jacke ist. Weder feiner Zwirn noch Sportkluft Marke „Stallgeruch“ hatten seinem Verein in der Hinrunde eine Siegesserie sichern können.
Am anderen Tag pilgerte ich wieder an den unheimlichen Ort, vielleicht könnte die Jacke Armin Veh als Talisman dienen. Ich wollte sie ihm schicken und meinen Teil dazu beitragen, dass mein strauchelnder Verein endlich wieder auf die Beine kommt.

Aber sie war mittlerweile verschwunden, natürlich. Neuschnee hatte ihren Platz eingenommen. Im wilden Zickzack umkreiste meine Terrier-Hündin die Bank auf der Suche nach etwas Essbarem, durchpflügte mit der Schnauze den tiefen Pulverschnee. Mir war klar: In dieser Hinrunde würden die Hamburger ohne Glücksbringer auskommen müssen.

Die Schurken-Schwaben

Wenn ich Leuten zum ersten Mal erzähle, ich sei Anhänger des HSV, schauen sie mich meist mit großen, fragenden Augen an. Warum denn mein Herz nicht für den VfB Stuttgart schlage, wollen sie wissen. Ich komme doch aus der Gegend und lebe zudem momentan weit weg vom „Ländle“ als Exil-Schwabe im fernen Berlin, wo es keine anständigen Brezeln gibt und die Leute „Schwaben raus“ an die Wände schmieren. Wahrscheinlich wirke ich in diesen Situationen bemitleidenswert entwurzelt und uneins mit meiner Heimatregion.

Das trifft jedoch nur für den Fußball zu. Wenn es um Trollinger, Lemberger und Schwarzriesling geht – allesamt Weine, die für Reingeschmeckte im Grunde ungenießbar sind – höre ich mich selten „Nein“ sagen. Ebenso liebe ich die Weinberge, die die zahlreichen Gemeinden im Unterland umfassen, sowie die spezielle Variante der schwäbischen Mundart, die hier einen stärkeren Singsang hat als in der Landeshauptstadt. Die Nähe zu Karlsruhe und Heidelberg, aber auch zum Odenwald schwingt im Sprechen der Menschen mit.

Obwohl ich also meine schwäbischen Wurzeln nicht verleugnen möchte, wurde mir der „Verein für Bewegungsspiele“ in meiner Kindheit durch drei prägende Figuren vergällt: Gerhard Meier-Röhn, Gerhard Mayer-Vorfelder und Olli, der Lockenbua.

Gerhard Meier-Röhn leitete in den 80er Jahren als Sportchef des SWR die Sendung „Sport im Dritten“ und trug zu dieser Zeit eine Brille mit Gläsern groß wie zwei Rhönräder. In den Beiträgen ging es um den Sport aus baden-württembergischer Perspektive und dabei spielte der VfB als Musterverein der Region eine Hauptrolle. Meier-Röhns langgezogenes „Vau“ ist mir noch sehr lebendig in Erinnerung, ebenso seine stets etwas gelangweilte und herablassende Art, die man am besten mit dem schönen Wort „blasiert“ beschreiben kann. Irgendwie kam er sich viel zu cool vor für den profanen Moderations-Schlamassel.

Die Sendung fiel immer auf einen Sonntag, meinen obligatorischen Badetag. Frisch gebadet, mit noch feuchten Haaren und Wasser in den Ohren, verfolgte ich zusammen mit meinem Vater die Neuigkeiten aus dem Südwesten. Er selbst war mit seinen Eltern im Alter von vier Jahren aus Leipzig in die Gegend gekommen und erreichte über den Sport eine Identifikation mit der Region. Als passabler Stürmer der Kinder- und Jugendzeit konnte er sich vor allem über den Fußball im Schwabenland integrieren. Gern hörte er Meier-Röhn zu, wenn der mal wieder von „unserem VfB“ sprach, was ich als unzulässige Vereinnahmung empfand. Aber ich war wohl so ziemlich der einzige Zuschauer dieser Sendung, der die Klubs aus dem Musterländle relativ leidenschaftslos zur Kenntnis nahm. Heute sehe ich Gerhard Meier-Röhn als die Kröte an, die ich gemeinsam mit meinem Vater schlucken musste, damit er sich in dem schwäbischen Städtle heimisch fühlen konnte.

Der Journalist war später Mediendirektor des DFB und hier kreuzen sich seine Wege mit dem quasi Namensvetter Gerhard Mayer-Vorfelder, in meiner Kindheit Kultusminister von Baden-Württemberg und Präsident des VfB. Der konservative Politiker war eine willkommene Zielscheibe im schwarz regierten südwestlichen Bundesland. Da das „Cleverle“, Ministerpräsident Lothar Späth, sich nicht recht als bad guy eignete, verkörperte der gebürtige Mannheimer die hässliche Fratze der CDU. Er hatte so ein gegeltes Trickbetrüger-Lächeln, ein Haifischgrinsen. Verschlagen blitzten die zu weiß gebleichten Zähne im Solarium gebräunten Gesicht, sodass es mich heute noch bei dem Gedanken daran innerlich schüttelt. Neben „MV“ wäre selbst Gordon Gekko zum Sympathieträger mutiert.

Mayer-Vorfelders Auftritt bei der EM 2004 in Portugal, dem letzten Rumpelfußballturnier einer deutschen Fußball-Mannschaft, zeigte uns eine weitere Seite seiner Persönlichkeit. Damals saß er als DFB-Präsident auf einem Stuhl am Rand des Trainingsplatzes und erinnerte mit Weste und ohne Sakko an einen Mafia-Paten, was unfreiwillig komisch wirkte. Die Analogie zu dem Kino-Klassiker von Francis Ford Coppola konnte treffender nicht sein, handelt der Film doch von dem Niedergang einer Familie. Auch der exzentrische Württemberger verwaltete bei der Euro vor sechs Jahren einen Untergang, allerdings den einer gesamten Fußballnation, was man als Zuschauer im letzten Spiel gegen die tschechische B-Elf bitter miterleben konnte.

Der Dritte im Bunde der fürchterlichen Schwaben war ein Schulkamerad und Kumpel: Olli, „d’r Lockenbua“ oder „’s Zwergle“, wie ihn meine Oma wahlweise wegen seiner Haarpracht und seiner geringen Körpergröße genannt hatte. Olli war immer unglaublich cool. Schon als Achtjähriger hatte er ein damals so heiß begehrtes BMX-Fahrrad, klatschte beim Fahren in die Hände, pfiff auf den Fingern und skandierte dazu „Oleoleoleole.“ Beim Fasching ging er nicht als Cowboy oder Indianer. Nein, er stylte sich als Punker: Riss seine Jeans auf und bemalte sie, schmierte sich Zuckerwasser ins gefärbte Haar und formte es in der Mitte zu einem Hahnenkamm, so wie es heute noch manche Jugendliche tun, die eine besonders lange Leitung haben oder eben ganz weit draußen wohnen.

Olli war so vorlaut und rotzfrech wie der Werbedreikäsehoch, der beim Nutella Spot die Jungnationalspieler an der Nase herumführt und in einer DiBa-Werbung für ein Autogramm Dirk Nowitzki anblafft, weil der nicht in Schönschrift unterzeichnet. Mein kleiner Kumpel hätte hingegen das Krikelkrakel der Stars cool und geheimnisvoll gefunden, wie übrigens die meisten Kinder in diesem Alter.

Auch für seinen Verein schrie und quengelte der Lockenjunge. Er war ein „VfB-Spitz“, wie man die Anhänger der Klubs in unserer Gegend humorvoll-abwertend nannte: ein Fan des „Vereins für Behinderte“. Besonders laut krakeelte er in der Saison, als das Team Meister wurde – angetrieben durch die genialen Mittelfeldspieler Asgeir Sigurvinsson und Karl Allgöwer, abgesichert von den kompromisslosen Förster-Brüdern und Helmut Rohleder im Tor. In dieser Spielzeit war der HSV der schärfste Konkurrent der Schwaben. Die Hamburger hatten die beiden vorangegangenen Meisterschaften und den Landesmeisterpokal an die Alster geholt. Diesmal mussten sich die Hanseaten aber mit dem zweiten Platz zufrieden geben. Und ich hatte als einziger Rauten-Fan die Jubel- und Spottgesänge im Unterland zu ertragen.

Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich mein Kontakt zu Olli tatsächlich nur verlief, weil wir gegnerischen Fußball-Klubs anhingen. Das Gedächtnis fantasiert im Nachhinein ja gerne, konstruiert unüberwindbare Grabenkämpfe, wo in Wirklichkeit nur ein Missverständnis herrschte. Im Grunde waren wir von unserem Wesen her zu unterschiedlich, ziemlich oft gehen ja ungleiche Kinder-Freundschaften auseinander.

Fakt ist jedoch, dass Olli, Mayer-Vorfelder und Meier-Röhn am Ende der Saison 1983/84 alle ausgelassen jubelten. Fast erscheint es mir, dass sie sich gemeinsam umarmten, was natürlich völliger Quatsch ist. Ich wusste jedoch schon damals ganz genau, dass ich, was den Fußball angeht, nie in Schwaben heimisch werden würde.

November ist ein Blödmann

Als HSV-Fan kommt man sich in letzter Zeit vor wie der kleine Depri-Knilch aus den legendären TV-Spots von Multi-Sanostol. In den Filmchen schlurft ein antriebsschwacher Bengel durch den Fernseh-Herbst der 80er Jahre. Einmal hat er einen scheußlichen Gießkannen-Regen zu überstehen, der einzig auf ihn herabregnet; dazu peitscht ihm der Wind fürchterlich um die Ohren, wirbelt welkes Laub auf. In einer anderen Version verlässt das kleine Pflänzchen gerade das Schulhaus und bleibt kraftlos am Eingang stehen. In beiden Spots wird der bemitleidenswerte Protagonist von einer abstoßend vitalen und lärmenden Kinderhorde an den Rand gedrückt und links liegen gelassen. Sie tragen definitiv keine schwarzgelben BVB-Schals, sind aber trotzdem unausstehlich.
Ein Off-Sprecher kommentiert die Tragödie:

„Wenn ein Kind häufig lustlos ist, wenig Appetit hat und oft erkältet ist, braucht es Multi-Sanostol.“

Die kurzen Werbestreifen erinnern an den Stil von Fernseh-Klassikern wie Aktenzeichen XY-ungelöst oder Der 7. Sinn. Sie sind halb-dokumentarisch und wirken – wohl ungewollt – apokalyptisch. Das Omega-Kind stapft desillusioniert und schwächlich über Gottes tristen Novemberacker, während der Alpha-Nachwuchs unbeirrt voranschreitet und sich mit kräftigen Ellenbogen Platz verschafft.

Auch der HSV hat in den vergangenen Wochen den ein oder anderen Schlag von der Konkurrenz mitbekommen und ist gerade damit beschäftigt, seine Wunden zu lecken und die blauen Flecken auszukurieren. Nach der Niederlage gegen Hannover möchte man die Frage, wer denn nun der große und wer der kleine HSV ist, lieber nicht stellen. Die Antwort wäre für den Bundesliga-Dino ziemlich peinlich, schrumpft er doch gerade in seinem Ansehen in der Liga auf Erbsengröße ein.

Trainer Armin Veh verkündet schon am Tag nach der Auswärtspleite, er sei mit der leidenschaftlichen Einstellung seines Teams zufrieden. Seine Elf habe überzeugend nach vorne gekämpft. Dieses Lob entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man sich das Bild des ramponierten Kapitäns vor Augen führt. Heiko Westermann hat einen Cut unter dem rechten Auge, ein respektables Andenken aus der letzten Schlacht, das jedem Boxer Ehre machen würde. Er hat famos gekämpft, letzten Endes aber vergeblich. Nun hat er eher einen Finger voll Bepanthen nötig als Multi-Sanostol.

Ein Tor wie ein Gedicht

Der Spielzug, den die Dortmunder Jungspunde in der 70. Minute auf den heimischen Rasen zeichneten, war Poesie von Körper und Ball, Ballspielkunst in seiner reinen Form. Die Aktion steht stellvertretend für das intelligente und inspirierte Auftreten der Dortmunder in der bisherigen Saison.

Mats Hummels gewinnt auf der Höhe der Mittellinie das Kopfballduell gegen Joris Mathijsen. Der Ball landet bei Jinji Kagawa, der gelben Gefahr aus dem Land der aufgehenden Sonne, und der Japaner legt postwendend den Hebel auf Angriff um, schickt Mario Götze auf dem rechten Flügel auf die Reise. Bis weit in den gegnerischen Strafraum dringt er vor und schiebt klug das Leder an HSV-Torhüter Jaroslav Drobny vorbei an den langen Pfosten, wo bereits Kevin Großkreutz heranprescht. Der setzt dem bisher Gezeigten noch die Krone auf, denn er trifft eine Entscheidung, die man nur mit einem Wort beschreiben kann: genial.

Er hält nicht blindlinks aufs kurze Eck im Gottvertrauen, dass die Kugel schon irgendwie an dem Hamburger Abwehrspieler vorbei ins Tor trudeln wird. In der aktuellen Form vertraut der 22-Jährige nicht Gott sondern seinem Torjäger. Schiebt den Ball uneigennützig mit dem Außenrist zurück an den Rand des Fünfmeterraums, direkt zu Lucas Barrios, weil der einfach besser postiert ist und nur noch seinen Fuß hinhalten muss.

Selbst für einen eingefleischten HSV-Fan wie mich war es im Nachhinein eine Freude, den Ball so munter im Strafraum zirkulieren zu sehen, selbst wenn das auf Kosten meines Vereins ging. Nicht nur körperlich war das jugendliche Sturm-und-Drang-Team von Jürgen Klopp dem Gegner überlegen. Vor allem geistig schalteten sie den berüchtigten kleinen Moment schneller, der die Spitze vom Mittelmaß trennt.

Widerlegt sind Kritiker aus den Anfangsjahren des Fußballs, wonach die „Fußlümmelei“, wie der Stuttgarter Professor Karl Planck das Spiel an der Wende zum 20. Jahrhundert nannte, einen schädlichen Einfluss auf die Jugend habe. Andere Stimmen sprechen noch in den 30er Jahren von einem „blödsinnigen Herumgelaufe und Herumgetrete“, einem Spiel von „abstoßender Rohheit“, das zudem das Schuhwerk ruiniere. (Moritz, S.61).

Heute wissen wir, dass das Ballspiel die Jugendlichen eher fördert: Es kann Teamfähigkeit sowie motorische Begabungen ausbilden und verfeinern. Eine Aufwertung dieses Sports wird unter anderem durch den Begriff „Spielintelligenz“ ausgedrückt, eine Eigenschaft, die man Akteuren wie Lionel Messi, Mesut Özil oder eben dem Dortmunder Nuri Sahin zuspricht.

Erfolgreiche Teams haben ein geringes Durchschnittsalter. Dieser Trend trifft auf das DFB-Team ebenso zu wie auf die Top-Mannschaften der Bundesliga. Zu diesem Kreis zählen die wieder einmal zu zögerlichen und zu sehr auf Sicherheit bedachten Hamburgern momentan nicht. Ihnen wurde in der Partie gegen den Tabellenführer plastisch vorgeführt, wie erfrischend intelligenter Fußball sein kann, und wo die Grenzen des Rautenklubs in dieser Spielzeit liegen.

Gegen die dynamische Jugendbewegung aus Westfalen konnten die Hanseaten nur ihr Alibi-Talent Heung-Min-Son aufbieten, das zwar kurzzeitig ein frisches Lüftchen in den Angriff brachte, aber letztlich von dem gemächlichem Tempo seiner betagten Mannschaftskameraden ausgebremst wurde.

Armin Veh, der leidende HSV-Coach, kritisierte dann auch nicht das Alter, sondern die leidenschaftlose Vorstellung seiner Elf, sie habe kein Herz gezeigt. Wenn schon feine Poesie derzeit aufgrund der dünnen Personaldecke an der Alster nicht möglich ist, so sollten die teuren Kicker wenigstens die Ärmel hochkrempeln und einmal wieder richtig malochen: Grasfresserlyrik wäre angesagt.

Quelle: Rainer Moritz (Hg), „Vorne fallen die Tore.“ Fischer Verlag Frankfurt/Main 2006.


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